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Lebensretter: 25 Jahre Airbag |
DaimlerChrysler |
Heute ist er so selbstverständlich wie ABS oder Zentralverriegelung – der Airbag im Automobil. Erstmals wurde die
Technik, die später Zehntausende das Leben retten sollte, 1980 in der damaligen Mercedes S-Klasse vorgestellt.
Vorausgegangen waren 13 Jahre schwieriger Entwicklungsarbeit, bei der auch Kanarienvögel eine Rolle spielten.
Das Testgelände in Stuttgart-Untertürkheim war weiträumig abgesperrt. Hinter dicken Mauern hockten Techniker von
Mercedes-Benz, hochkonzentriert bis ins Mark. Kein Laut war zu hören, kein Lüftchen regte sich. Plötzlich ein
ohrenbetäubender Knall, und Fetzen von Gewebe und Kunststoff flogen umher. Nervös flatterten Vögel aus ihren Bäumen.
Die Techniker sprangen hinter ihren Mauern hervor und jubelten: Die geplante Knallerei war positiv verlaufen. Wieder
waren die Stuttgarter Entwickler ihrem Ziel einen Schritt näher gekommen: dem Airbag zur Einbaureife ins Automobil
zu verhelfen. "Wir haben uns der Raketentechnik bedient", erinnert sich Helmut Patzelt, einer der Väter des Airbags und
Fachmann fürs Pyrotechnische. "Die Rakete bekommt ihren Schub durch austretendes Gas, und wir haben es im Prinzip
genauso gemacht. Nur, dass wir das Gas aufgefangen haben, und zwar in einem Luftsack."
Mit solchen Zündversuchen begann 1967 bei Mercedes-Benz die Entwicklung des Airbags. Die ursprünglich bereits 1953 durch
den Deutschen Walter Linderer und den Amerikaner John W. Hendrik zum Patent angemeldete Idee eines faltbaren Luftsacks,
der sich im Gefahrenfalle automatisch aufbläst, war ebenso faszinierend wie zunächst nicht zu realisieren -
es fehlten leistungsfähige Computer-Simulationen ebenso wie höchst zuverlässige Sensoren, ergänzt um die durchaus
gefährliche Explosionsproblematik. "»Ihr bringt die Pyrotechnik nie ins Auto« lauteten die gängigen Vorbehalte",
erzählt Patzelt. Tatsächlich mussten alle Ingenieure, die mit den Sprengstoffen zu tun hatten, auf Anordnung der
Behörden zunächst einen Lehrgang an der Sprengschule in Siegen absolvieren.
Doch warum eigentlich einen Airbag? Das Thema passive Sicherheit lag Mercedes schon immer am Herzen - Jahrzehnte,
bevor es zu einem öffentlich weiter beachteten wurde. Der Idee gaben außerdem die rasant wachsenden Unfallzahlen in
den 1960er-Jahren - die Zahl der Verkehrstoten erreichte 1970 ihren Höhepunkt - und eine neue Gesetzgebung in den
USA Schub, die zunächst vorsah, ab 1969 jedes neue Auto mit einem automatischen Insassenschutzsystem auszurüsten.
Ebenso schnell, wie er gefordert wurde, geriet der Airbag auch zum Streitfall. "Der Luftsack wird mehr Menschen umbringen
als retten", lauteten die neuen kritischen Töne aus den USA. Die Folge: Terminverlängerung bis 1976. Und auch danach wurde
die Serieneinführung immer wieder verschoben. Der Airbag - nur heiße Luft? Hansjürgen Scholz, damals Projektleiter Passive
Rückhaltesysteme bei Mercedes, erinnert sich: "Als in den USA 1974 ein tödlicher Unfall mit einem Airbag passierte,
verließen alle Beteiligten fluchtartig das Projekt." Die Folge: Die Mercedes-Entwickler standen von heute auf morgen
alleine da; Unterstützung von außen gab es nicht. Auch andere deutsche Hersteller konnten damals die Chancen des
Projekts nicht einschätzen.
Doch aufgeben wollen die Anhänger der Airbag-Philosophie nicht. "Wir hatten das riesige Potenzial des Luftkissens erkannt.
Diesen Trumpf gaben wir nicht aus der Hand", betont Professor Guntram Huber, ehemaliger Direktor für die Entwicklung der
Pkw-Aufbauten bei Mercedes-Benz. Noch im gleichen Jahr beschließt der Vorstand die Serienentwicklung und gibt entsprechende
Mittel frei.
Die Forschungsarbeiten, die folgen sollten, waren höchst aufwändig, teuer und langwierig. Geklärt werden mussten unter
anderem Fragen zur Auslösung per Sensor, zur Gaserzeugung, zur Reißfestigkeit des Airbag-Gewebes, zur Gehör- und
Gesundheitsverträglichkeit, zur Funktionssicherheit und nicht zuletzt zur Verhinderung einer versehentlichen Auslösung.
Auch Toxikologen meldeten sich zu Wort. Sie monierten die Emissionen, die nach einem Airbag-Einsatz im Auto zurückblieben.
Aber auch diese Frage konnten die Tüftler lösen. Der nach anfänglichen versuchen mit Flüssiggas in Tablettenform gepresste
Festtreibstoff aus Natriumazid, Kaliumnitrat und Sand hinterlässt überwiegend ungefährliches Stickstoffgas und geringe
Mengen Wasser- und Sauerstoff.
Bei der Überwindung der technischen Hürden hatten auch unkonventionelle Ideen Hochkonjunktur. Da der Knall beim Auslösen
des Airbags über der Schmerzgrenze lag, aber nur zehn Millisekunden dauerte, war der Effekt auf die Trommelfelle zunächst
nicht eindeutig auszumachen. Deshalb installierten die Ingenieure einen Käfig mit 15 Kanarienvögeln im Testwagen, um zu
erfahren, inwieweit sich beim Auslösen des Airbags der Knall, die Gasemissionen und der Luftdruck schädlich auswirken
könnten. Der Versuch erbrachte nicht nur, dass alle Kanarienvögel überlebten, sondern auch ausgesprochen munter blieben.
Wieder war ein Schritt getan.
So gewannen die Airbag-Pioniere bei 250 Crashtests mit kompletten Fahrzeugen, rund 2.500 Schlittenversuchen und tausenden
Einzelteiltests wertvolle Erkenntnisse, die dem Luftpolster den Weg in die Serienfertigung wiesen.
Bei allen Tests stand immer eine Sorge obenan: Dass sich der Airbag im Auto unbeabsichtigt auslöst - für die Tüftler ein
Horrorszenario. Bei frühen Versuchen kam es vor, dass der Airbag im Stand zündete. Deshalb mussten die Entwickler auch bei
der Elektronik bei Null beginnen. Die wenigen Millisekunden Reaktionszeiten, die der Sensor für eine Airbag-Auslösung zur
Verfügung hatte, waren damals noch utopisch. Dem Sensor wurde auch sonst nichts erspart: Er musste bei extrem tiefen und
sehr hohen Temperaturen über viele Jahre hinweg bei ständig wechselnder Luftfeuchtigkeit problemlos funktionieren.
Mit 600 Versuchswagen im Straßeneinsatz, bei Offroad-Tests und Rallyes wurden mehr als sieben Millionen Kilometer
zurückgelegt, um die unbedingte, weil lebensrettende Funktion des Sensors sicherzustellen. In zahlreichen Selbstversuchen
setzten sich Ingenieure, Techniker und auch Mitarbeiter aus den Büros ans Steuer, um einen Airbag im Ernstfall zu erleben
und ihre Beobachtungen an das Projektteam weiterzugeben.
13 Jahre nach den ersten Knalls in Untertürkheim und sieben Jahre nach Einreichung der Patentschrift ging es
dann nur noch um kleinere, lösbare Probleme, etwa was was mit dem Airbag nach dem Verschrotten des Autos passiert, bevor
endlich der Einbau in einen nagelneuen Serien-Mercedes für einen Kunden stattfinden konnte. Das war im Dezember 1980,
natürlich in der S-Klasse der Baureihe W126, und kombiniert mit einem ebenfalls erstmals eingesetzten Gurtstraffer.
Anfänglich handelte es sich um eine teure Extra-Ausstattung, und manche Kunden hegten durchaus Zweifel an deren Wirksam-
und/oder Zuverlässigkeit. Überzeugungsarbeit in der Öffentlichkeit auf der einen und schlichtes Vertrauen auf der anderen
Seite bahnten dem Airbag dennoch zügig seinen Weg. "Sie wussten und sie wissen: Wenn Mercedes-Benz das bringt, dann muss
es gut sein", sagt Professor Guntram Huber (70), bei Daimler-Benz von 1977 bis 1997 Direktor Entwicklung Pkw-Aufbauten.
Was sich heute als eingebildeter PR-Spruch anhört, beinhaltet bezogen auf die Zeit, als Mercedes noch ein völlig anderes
Unternehmen war als heute, durchaus einen wahren Kern.
Schon 1984 gab es den Luftsack als Extra für alle Mercedes-Pkw, ab 1991 gehört er in der S- und SL-Klasse sowie im
500E der Baureihe W124 erstmals zur Serie - in den Zwölfzylindermodellen sogar auf der Beifahrerseite. Schon ein Jahr
später wird der einmillionste Airbag verbaut, trotz hoher Kosten: 4.130 Mark extra berechnete Mercedes noch im April
1991 für zwei Airbags in unserem Redaktions-Youngtimer, mehr als für die Klimaanlage. Noch im gleichen Jahr zieht die
Technik als Standard zunächst für den Fahrer in alle Mercedes-Pkw ein. 1993 folgt die Studie eines Seitenairbags, 1995
ist auch dieser erstmals erhältlich, wobei hier Mercedes nicht mehr der erste Anbieter war.
Inzwischen gehören in den meisten Autos neben je zwei Front- und Seitenairbags auch sogenannte Windowbags zur
Normalität, die sich zwischen A- und C-Säule entfalten; zunehmend werden auch Seitenairbags im Fond und teilweise
Knieairbags für den Fahrer verbaut. Moderne Systeme mit komplexer Regelelektronik arbeiten adaptiv, womit insbesondere
die Fähigkeit zur zweistufigen Zündung je nach Unfallschwere gemeint ist.
Und wie sieht die Zukunft des Airbags aus? Künftig sollen - unter Auswertung reeller Unfallgeschehen - weitere
Funktionen implementiert werden. Welche Art von Unfall droht? Aus welcher Richtung wird ein anderes Fahrzeug aufprallen?
Mit welcher Geschwindigkeit werden die Autos zusammenstoßen? Diese und andere Daten lassen sich zum Beispiel mithilfe
moderner Radarsensorik erheben, die kürzlich in der neuen S-Klasse Premiere feierte. Zusätzlich wäre auch eine
elektronische Objekterkennung denkbar, die das Größenverhältnis entgegenkommender Fahrzeuge feststellt und deren
Gewicht aufgrund gespeicherter Erfahrungswerte ermittelt.
So sähe das System beispielsweise, ob sich ein Lastwagen, ein Omnibus oder ein Pkw auf Kollisionskurs befindet und
könnte die drohende Unfallschwere berechnen. All das wird integriert sein in ein weiterentwickeltes vorausschauendes
System, das möglicherweise dereinst Airbags auch präventiv aufblasen könnte.
Ein weiteres Entwicklungsziel lautet Individualisierung: Die Schutzsysteme von morgen werden noch präziser als bisher
auf die Auto-Insassen - auf ihre Größe, ihr Gewicht, ihr Geschlecht und andere Parameter - abgestimmt. Denkbar wäre es
zum Beispiel, dass Fahrer, Beifahrer und Fondpassagiere vor dem Start den Bordcomputer mit persönlichen Angaben wie Größe,
Gewicht, Geschlecht oder Alter programmieren oder auch dieses durch Sensoren erfasst wird. Auf Basis dieser Daten lässt
sich bei einem Unfall unter anderem Auf- und Abblasverhalten der Airbags, die Kraft der Gurtstraffer, die Funktion der
Gurtkraftbegrenzer oder die Position der Lenksäule individuell einstellen.
Das freilich ist zunächst Zukunftsmusik. Fakt ist, dass der Airbag in den letzten 25 Jahren mehreren Zehntausend
Menschen ihr Leben gerettet und einer noch viel höheren Zahl schwer(st)e Verletzungen erspart hat. Mag man Mercedes
insbesondere in den letzten Jahren mit gemischten Gefühlen gegenüberstehen - doch der Airbag wurde, ebenso wie
die Knautschzone, die Sicherheitslenksäule, der Gurtstraffer, ABS und später ESP, in Stuttgart erfunden. Ehre,
wem Ehre gebührt: Glückwunsch an die Männer und Frauen, die an die Idee geglaubt und sie umgesetzt haben.
In den USA übrigens wurde der Airbag schließlich 1993 gesetzlich vorgeschrieben, 25 Jahre später als ursprünglich
vorgesehen.